Neulich

hatte ich mir ein paar Sätze erobert, die mir mein Faible für Haruki Murakami erklären sollten. Ich erinnere mich, dass mir meine Beschreibung treffend erschien. Und ich den Heimweg vom Bahnhof beschwingt unternahm. An mehr erinnere ich mich nicht. Das liegt nicht an Murakamis Neigung, sich der Betrachtung zu entziehen. Es liegt an meinem Gedächtnis.

Neulich war genau genommen gestern Abend. Von meinem Gedankengang bekomme ich nur noch zu fassen, dass er mir erhellend vorkam.

Ich sitze jetzt in einem kleinen Restaurant. Ich war hungrig und habe mir eine Bruschetta mit reichlich Tomaten und Ruccola und der genau richtigen Menge Olivenöl gegönnt. Ich wusste von einem zurückliegenden Besuch, dass ich die Bruschetta hier so erwarten darf. Die Vorstellung, am Tisch meine gestrigen Murakami-Gedanken zu Papier zu bringen, hatte großen Anteil daran, überhaupt herzukommen. Sie war angenehm und passte zu dem Gefühl, da irgendwie mal ins Schwarze getroffen zu haben. Aber bereits auf dem Weg ins Restaurant wusste ich, dass mir der Coup misslingen würde. Schon den ganzen Tag war da diese Fahrigkeit in meinem Kopf. Wie ein Lufteinschluss, der sich zwischen meine Gedanken und mir geschoben hatte. Diese Art, mich selbst zu erleben ist nicht neu. Sie ist vielmehr die Regel.

Das längliche Stück Eis in meinem Whisky erinnert mich an eine Zelle, die man durch ein Mikroskop betrachtet. Ihre Größe und Nähe ist dabei nichts weiter als eine Täuschung. Ganz abgesehen davon, dass ich auf einen Eiswürfel in meinem Whisky starre und nicht durch das Okular eines Mikroskops.

Im Augenwinkel sehe ich das Licht eines vorbeifahrenden Autos über den Fußboden des Lokals huschen. Der Schemen einer Katze, die zwischen den Stühlen nach einem Versteck sucht. Aber dort ist keine Katze. Wenn ich nach Hause gehe, werden dort auch keine Schlangen durchs Gebüsch schlängeln. Nichts wird so sein, wie es sein könnte. Alles wird so sein, wie es ist.

Eins zwei drei vier

Eckstein, alles muss versteckt sein, hinter mir und vorder mir gildet nicht –

ich gehe nach Hause. (Übrigens hab ich immer schon neugierig & gern einen Blick von der Straße in meine Wohnung geworfen. In der Hoffnung, die Außenwahrnehmung könnte etwas enthüllen, das die innenwändig erlebte Loremipsigkeit in ganz anderem Licht erscheinen ließe. Just another pirouette.)

Diese Milliarden

an Vorgängen. Wuchernd wie Giersch; vegetierend in Ordnern, Hängeregistern und zig anderen Ablagesystemen. Nach instabilen Ordnungen sortiertes Papier, mit Kanten, an denen man sich schneiden kann. In alten Akten vielleicht auch hier und da schon wellig, noch vom panisch abgetupften Kaffee-Malheur. Oder stockfleckig, je nach Lagerort.

Die meisten eh schon vergessen, wie alles, über das sich die Zeitläufte schichten und schichten. Herabgefallenes Laub. Feucht, pappig, in Auflösung begriffen und voller Rätsel. Nicht mehr nachzuvollziehen. Wegen der Lücken im Bestand. Und wegen der grotesk verschachtelten grammatischen Konstruktionen. Die ungeheuerliche Anmaßung der Regeln – und der zahllosen Vorgänge, die sie gebären. Klebrig wie Fliegenleim. Für den Erfassten ebenso, wie für den Erfasser.

Eine Frau

im Zug, die eine zugestiegene Dame bittet, sich nicht auf den freien Platz neben ihr zu setzen. Sie habe Angst vor dem Kaffeebecher, den die Dame dabeihat. Weil der Zug sehr voll ist beginnt eine Rochade, die ihr schließlich einen älteren Herrn ohne Kaffeebecher zuführt. Die Ängstliche wirbt die Zeit über, in der sich allerlei Fahrgäste aneinander vorbeischieben und neue Plätze einnehmen, um Verständnis. Sie habe einschlägig negative Erfahrungen mit Menschen, die Kaffeebecher auf allzu sorglose Weise dabeihaben.

Nach einer Weile verebbt das Geraschel und Gerede ringsum. Der Zug wiegt uns sanft hin und her. Die Klimaanlage rauscht. Alles nochmal gut gegangen.

An das Gesicht

des Busfahrers kann ich mich nicht erinnern. Nur dass er mit der Abfahrt geduldig wartete, bis ich für das Lebkuchenhaus vom Weihnachtsbasar der Schule einen sicheren Ablageplatz gefunden hatte. Es war dunkel in dem Bus. Ein irgendwie ältliches Licht schuf eine Schummrigkeit, wie ich sie aus meiner Kindheit erinnere. Die Welt war damals ein weniger ausgeleuchteter Ort.

Die Kinder hatten sich weit nach hinten verdrückt. A. auf die letzte Bank; N. saß mit einem Mitschüler eine Sitzreihe davor. Als ich mich zu A. setzen wollte, fiel mein Blick auf das Schild. Es war über der Heckscheibe des Busses befestigt und im Dunkeln kaum wahrzunehmen. „Jeder Fahrgast ist verpflichtet, sich einen festen Halt zu verschaffen.“ Die ängstliche Regulationswut, die in dieser Anordnung steckt, fand ich putzig. Gleichzeitig ist etwas Anrührendes darin. Weil von irgendwo aus dem Dunkel hinter diesem Satz ein Seufzen zu hören ist. Über die vergebliche Mühe, in diesem Leben immer und sicher auf den Beinen bleiben zu wollen.

Ich versuchte mir den Menschen vorzustellen, der sich diesen Satz ausgedacht hatte. Ich sehe dabei einen Mann vor mir. Er hat schütteres, streng zurück gekämmtes Haar. Sein weißes Hemd ist mit einem feinen, rot-blauen Gittermuster versehen. Über dem Hemd trägt er einen weinroten Westover. Die Manschetten seines Hemdes hat er zweimal zurückgeschlagen. Es ist Abend und er sitzt länger in seinem Büro, als er es üblicherweise tut. Er kommt mit diesem Satz nicht zurecht, den er zu fomulieren hat. Morgen sollen die Hinweisschilder in Auftrag gehen und dieser Satz will ihm nicht gelingen. Er starrt in die Dunkelheit hinter dem Lichtkegel seiner Schreibtischlampe. Die Kollegen sind alle schon gegangen. Es ist still. Und nichts ist so still wie das Grün der Schreibunterlage, auf die er sich seit Jahren stützt und die ihm jetzt keinen Halt mehr verschafft.